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Ähnlichkeiten und Überschneidungen anhand der Theorie von WingTsun Kuen und Taiji Quan – aus 2011

Günther Röder Auweg 9
6114 Kolsass

Ähnlichkeiten und Überschneidungen anhand der Theorie von WingTsun Kuen und Taiji Quan

Schriftliche Arbeit zum 4. Lehrergrad ARTMA

Ohne Wissen zu üben, führt genauso wenig zum Ziel wie viel zu wissen, ohne es anwenden zu können.

Die folgende Arbeit soll einerseits Überschneidungen der beiden Kampfkünste WingTsun & Taiji herausarbeiten, als auch aufzeigen, warum es wichtig ist, auch über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, um sich besser weiter entwickeln zu können.
WingTsun (speziell die EWTO Variante) zeichnet sich in der Theorie durch 4 Prinzipien, 4 Kraftsätze und deren Anwendung aus. Eine Kampfkunst, die es auch einem körperlich Unterlegenen möglich machen soll, sich gegen einen stärkeren Angreifer erfolgreich zu verteidigen, indem man nicht gegen die Kraft des Gegners arbeitet, sondern sich diese zu Nutze macht.
Selbiges habe ich auch schon des Öfteren über Taiji gehört/gelesen: dass es sich um eine Kampfkunst handle, die ohne viel eigener Körperkraft effektiv in der Anwendung sei.
Meist sieht man jedoch nur ein paar Leute im Park, die sich in Zeitlupe bewegen, um etwas für ihre Gesundheit zu tun.
Folgende oftmals gehörte/gelesene Aussage liegt meinem Vergleich zugrunde:
Bei Taiji handelt es sich um einen Inneren Stil, der in seinem Ursprung sehr gut zum Kämpfen geeignet ist, sich aber mittlerweile auf den Gesundheitsbereich spezialisiert hat. WingTsun ist ein Nahkampfstil, der sich vor allem in Richtung „Funktionieren im Ernstfall“ entwickelt hat.
Auf den folgenden Seiten möchte ich nun ein paar Ähnlichkeiten aufzeigen – in wie weit beide Stile voneinander beeinflusst wurden oder ob es sich nur um eine teilweise „Parallel- Entwicklung“ handelt, möge jeder für sich selbst entscheiden.
Weiters möchte ich bei der genaueren Betrachtung der Taiji-Energien auch darauf eingehen, wie sich die beiden Systeme gegenseitig befruchten könnten.

Die Geschichte / der Ursprung:
Waren es der Legende nach im Taiji eine Schlange und ein Kranich, die dem System seine Grundzüge gaben, so waren es im WingTsun ein Fuchs und ein Kranich. Entsprechend der Fußnote 10 in „Die Geschichte des Yip Man Stiles“ könnten es aber auch eine Schlange und ein Kranich gewesen sein. Also bereits in den Entstehungslegenden sehen wir erstmals frappierende Ähnlichkeiten. In wie weit diese Legenden ernst zu nehmen sind, sei natürlich in den Raum gestellt.
Wie wahrscheinlich jede ernstzunehmende Kampfkunst, so entspringt auch Taiji ursprünglich der kriegerischen Auseinandersetzung.
In den ersten Perioden war Taiji eine reine Kriegskunst (General Chen Wanting, Yang Luchan und Chen Fake waren durch den Ruf, unbesiegbar zu sein, bekannt). Erst durch die Herausnahme vieler kämpferischer Aspekte und die Vereinfachung (moderner Yang Stil) sowie die Ausrichtung in Richtung „Gesundheitsstil“ kam es zu einer Verbreitung in größerem Stil.
Auch WingTsun wurde in Geheimgesellschaften dazu entwickelt/genutzt, um den Gegner so schnell als möglich auszuschalten – schnell, kompromisslos, schnörkellos: Funktion pur sozusagen.
Im Laufe der Jahrzehnte änderte sich natürlich das Anwendungsgebiet für die Kampfkünste. Heute läuft kaum jemand mit Doppelmessern am Bein herum und muss fürchten, als „Rebell“ aufzufliegen, wenn er sein Gegenüber nicht schnell genug ausschaltet.
Aber nicht nur das Umfeld, auch die Trainierenden änderten sich. Waren es anfangs im WingTsun größtenteils „einfache Leute“ wie Köche und Kellner und nur in Ausnahmefällen Gelehrte, die WingTsun erlernten, so ist WingTsun heute Studienfach an der Universität in Plovdiv. Folglich ist also nicht mehr nur die Tatsache, dass WingTsun eine effektive Kampfkunst ist wichtig, sondern auch das Warum und die philosophischen Hintergründe sollten eine wichtige Rolle spielen.

Im vorigen Jahrzehnt wurde auch im WingTsun mehr und mehr der Gesundheitsaspekt in den Vordergrund gestellt und eine eigene Gesundheitsschiene entwickelt (obwohl speziell mit der Gesundheits-SiuNimTao gemäß Professor Chu bereits ein äußerst hoher Gesundheitswert gerade in dieser speziellen Form integriert war). Diese „Erweiterung“ erfolgte jedoch nicht auf Kosten von WingTsun als Kampfkunst, sondern als parallele Schiene. Somit blieb im WingTsun immer die kämpferische Ausrichtung hinsichtlich Effektivität als oberste Prämisse erhalten (wenn auch neuerdings ergänzt/optimiert hinsichtlich moderner Anforderungen, die z. B. das Notwehrrecht mit sich bringen).
Nicht so im Taiji, wo der Großteil der Ausübenden wahrscheinlich gerade einmal gehört hat, dass Taiji eine effektive Kampfkunst wäre, sich aber lediglich für den Gesundheitsaspekt interessiert. Es soll auch sehr schwierig sein, überhaupt noch Lehrer zu finden, die kämpferisches Taiji unterrichten.

Der Stand:
Während im WingTsun der IRAS die Grundlage bildet, ist es im Taiji die Zhangzhuang (Stehende Säule).
Im Folgenden stelle ich gegenüber, wie im WingTsun (SiuNimTao Buch von GM Leung Ting – englische Version) und im Taiji (Chen von Jan Silberstorff) wichtige Punkte für den korrekten Stand beschreiben werden.
WingTsun-Mottos für den Stand:
• Drücke den Kopf in den Himmel und stehe fest/stabil am Boden.
• Kopf hoch mit horizontalem Blick
• Entspannte/aufnahmefähige Brust und erhabene/aufrechte Wirbelsäule
• Strecke die Hüfte und senke den Bauch.
• Sinkender Ellbogen und sinkende Schultern
Taiji-Mottos für den Stand:
• Am Scheitel wie aufgehangen
• Entspannen der Wirbelsäule
• Leer werden im Brustbereich
• Entspannen von Schulter und Hüfte
• Entspannen von Ellbogen und Knien
• Entspannen von Händen und Füßen
Beide Male steht der Ausführende ca. schulterbreit, mit dem Gewicht gleichmäßig auf beiden Beinen verteilt. Der einzige Unterschied liegt in der Beinhaltung: parallel im Taiji vs. nach innen rotiert im WingTsun.
Auch die „gestreckte“ Hüfte im WingTsun ist so zu verstehen, dass weder Hüfte, noch Hintern aus der Schwerlinie hinausragen und eine aufrechte Haltung erreicht wird. Der Stand dient nicht nur dazu, anatomisch funktionell zu stehen, sondern auch dazu, dass der Geist abschaltet und die Muskulatur sich entspannt (1. Kraftsatz: „Befreie dich von der eigenen Kraft“ – und zwar nicht nur muskulär).
Der große Unterschied liegt allerdings darin, dass im WingTsun der Stand oftmals nur als Einleitung zur Form gesehen wird, wohin gegen er im Taiji eine tragende Rolle innerhalb des Systems hat.
Im WingTsun wird gestanden, „um zu stehen“, im Taiji dient die Stehende Säule als Ausgangspunkt für die Energiearbeit und die Seidenfäden-Übungen.
Während in der Stehenden Säule das Zentrum mehr oder weniger durch Bewegung unverändert bleibt, wird in den Seidenfäden-Übungen die Struktur im Körper bewegt – ohne jedoch das Zentrum zu verlieren.

Ähnliches sollte auch in der ChumKiu vorhanden sein – ständiges Gleichgewicht in allen Bewegungen (nicht umsonst schreibt GM Kernspecht in „Zweikampf“, dass wir nicht 100 % unserer Energie in einen Schlag legen sollen, sondern immer noch genügend Reserven für unser Gleichgewicht behalten sollen).

Kampftheorie:
Da Überschneidungen in diesem Bereich bereits ausführlich auf der EWTO-Homepage am 30/09/2004 im Zuge des Kommentars von Meister Jan Silberstorff zum Buch „Der letzte wird der erste sein“ nachzulesen sind, hier nur eine kurze Zusammenfassung:
„Wenn der Feind sich nicht bewegt, bewege ich mich auch nicht. Sobald der Gegner sich bewegen will, bewege ich mich zuerst/bin ich schon da“ – eine Theorie, zu welcher in Sigung Kernspechts Buch die wissenschaftlichen Hintergründe näher erläutert wurden (Bereitschaftspotential/Bewusstsein/Handlung), indem er darlegte, dass bis zum Erleben eines Entschlusses bereits 0,3 Sekunden vergangen sind.
Die Energie-Idee der Peitsche (weiche, elastische Übertragung der Kraft) ist sowohl im WingTsun, als auch im Taiji zentraler Bestandteil.
Auch folgende Theorie ähnelt sich sehr:
„Verfolge nicht die Arme, sondern den Körper“ gegenüber
„Folge nicht den Bewegungen des Gegners, sondern seinem Zentrum“.
Ich ziehe hier gerne folgendes Beispiel für meine SchülerInnen heran:
Ein Stock, der einfach nur so herumliegt, wird mich nicht angreifen – von ihm geht also keine Gefahr aus. Ein Gegner, der mit einem Stock bewaffnet ist, benutzt den Stock, wird mich aber auch dann weiter angreifen, wenn ich den Stock kontrolliere. Wenn ich also die Situation unter Kontrolle bringen will, muss ich den Gegner kontrollieren, nicht nur seine Waffen.

Außenpositionen:
Auch wenn im WingTsun sehr viel in Innenpositionen trainiert wird (ChiSao, LatSao), so ist es doch nicht das Ziel, in dieser Innenposition zu verharren. War es früher erst die Holzpuppenform und deren Anwendung, welche die WingTsun Anwender quasi „nach Außen“ brachte, so ist es heute bereits ab der ersten Stunde in den Blitzdefence- Programmen das Bestreben, eine Außenposition einzunehmen. Auch wenn dies für Anfänger hinsichtlich Ausrichtung auf den Gegner/Zentrallinie nicht so leicht zu verstehen/bewältigen ist wie in der frontalen Position, so bringt es doch einen enormen Vorteil hinsichtlich Sicherheit für den Ernstfall.
Im Taiji ist es auch die Außenposition, welche in den Schiebenden Händen vorrangig angestrebt wird.

Der nun folgende Vergleich wird nun eingehender betrachtet, da er meiner Meinung nach eine tragende Rolle in beiden Systemen inne hat und gerade in diesem Bereich beide Systeme enorm von einander profitieren könnten:

ChiSao vs. Pushing Hands
bzw.
Einüben von Bewegungsmustern vs. Verständnis für im Kampf auftretende Energien

Waren es in den Sektionen – so wie sie zu meinen EWTO Zeiten vermittelt wurden – immer nur Bewegungsabläufe mit der Absicht, den Trainingspartner zu treffen, welche gedrillt wurden, so scheint es den Taiji ́lern genau umgekehrt zu gehen: Hier ist die Verbindung zum Gegenüber, samt daraus folgender Energiearbeit, der wesentliche Grundgedanke. Es herrscht im Taiji viel Wissen um die verschiedenen Energien, welche im Kampf auftreten können, es gibt jedoch scheinbar keine wirklich strukturierte Trainingsmethodik, diese entsprechend zu trainieren. Somit ist es für mich eine logische Schlussfolgerung, das Wissen um die Energien mit den Trainingsmethoden der „Sektionen“ zu kombinieren, und beide Teile gemeinsam zu betrachten.
Ausgehend von den „geheimen Trainingsdokumenten der Familie Yang – Das Wesen des Taiji-Quan“ sowie Vorträgen von Sifu Herzog und über 15 Jahren eigener WingTsun Erfahrung, will ich versuchen, diesen Brückenschlag zu machen und anhand einiger Beispiele aufzeigen, welche Fähigkeiten/Energien in den Sektionen kultiviert werden sollten.

Ausgangslage:
Egal, von welchem Standpunkt aus betrachtet, ergibt sich in beiden Kampfkünsten ein Bereich vor dem Körper, der geschützt werden soll bzw. als „Puffer“ dient, welchen ich gerne als „Garten“ bezeichne.
Im Taij-Quan ähnelt der „Garten“ eher einem Ball, den ich vor meinem Körper herschiebe, im WingTsun eher einer Pyramide/Kegel mit dem (Ober)Körper als Grundfläche.
Wenn es gelingt, dass mein Gegenüber nicht in diesen Bereich eindringen kann, so kann er folglich auch meinen Körper nicht treffen, oder bildlicher formuliert: Solange der Einbrecher nicht in den Garten kommt, hat er auch keine Möglichkeit, das Haus zu betreten.
Die Unterschiede der beiden „Gärten“ rühren meiner Meinung nach daher, dass WingTsun als Kampfkunst zielgerichteter darauf aus ist, in den Gegner geradlinig einzudringen, um diesen auszuschalten (extrem sichtbar in einigen WingTsun Stilen), es im Taiji-Quan mehr darum geht, die Energie des Gegners von einem selber abzuleiten.
Grundlage in beiden Systemen ist, dass der „Garten“ eine entsprechende Stabilität aufweist. Dies geschieht durch Peng (abwehrende, aufblasende Energie).
Ähnlich einem aufgeblasenen Luftballon, den ich vor meinem Körper habe, entspricht meine Armhaltung („Ball umfassen“ aus der Zhangzhuan oder der WingTsun Keil) einem „Schutzschild“, welcher es mir ermöglichen sollte, zu fühlen, wohin der Gegner genau will.
Da wir davon ausgehen müssen, dass der Angreifer kräftig genug sein wird, unseren Garten einzudrücken, muss über entsprechende Fähigkeiten gewährleistet sein, dass der Gegner zwar sein Ziel erreicht, es aber eigentlich doch nicht erreicht, da es nicht mehr dort ist, wo es ursprünglich war. Dazu gibt es grundlegend zwei Möglichkeiten: entweder indem der Angriff verdrängend abgeleitet wird, oder indem der eigene Körper aus der Gefahrenzone entfernt wird.

Dies führt zu den nächsten zwingend notwendigen Energien nach Peng Jin: die rezeptiven oder sinnlich wahrnehmbaren Energien, die Grundvoraussetzung dafür sind, die Bewegungsabsicht des Gegners zu erfühlen.
Zhan Nian Jin – anhaftende und klebende Energie
Ting Jin – hörende Energie
Dong Jin – interpretierende Energie
Sowohl im WingTsun, als auch im Taiji-Quan gibt es spezielle Übungszyklen, um diese 3 Energien zu entwickeln und zu kultivieren – DaanChi & Poon Sao auf der einen, Tui-Shou / Pushing Hands auf der anderen Seite.
Das Training erfolgt normalerweise aus bereits erfolgtem Armkontakt und zielt darauf ab, sich über die Hände/Arme mit dem Gegner/Partner zu verbinden, sich an seine Bewegungen „anzuhängen“ und mit den Bewegungen mitzugehen bzw. an ihnen zu kleben (Zhan Nian Jin).
Der nächste Schritt ist dann, dem Gegner zuzuhören – also seine Bewegungsabsicht wahrzunehmen (Ting Jin).
Hören (wenn auch nicht mit den Ohren, sondern mit dem Tastsinn) ist insofern eine treffende Bezeichnung dieses Vorgangs, da es sich dabei um etwas handelt, das insofern passiv ist, als dass man es nicht erzwingen kann. Man muss sich also auf den Gegner einlassen und dabei selbst „leer“ sein. Dies bedarf natürlich einer gewissen Entspanntheit (Song), sowohl körperlich, als auch geistig. Ohne diese Entspanntheit und Flexibilität besteht auch kaum eine Chance, sich wirklich auf den Gegner/Partner einzulassen.
Nach dem Anhaften & Kleben sowie Hören geht es in weiterer Folge darum, interpretieren zu lernen (Dong Jin), also wahrzunehmen, wohin der Angriff/Impuls gehen wird. Je größer die Bewegungserfahrung in diesem Bereich, desto exakter dann natürlich die korrekte Interpretation der Bewegungsabsicht des Gegners.
Welchen Vorteil hat es nun aber, sich in die Bewegung des Gegners „einzuhängen“, und warum ist das so wichtig für Innere Stile?
Grob gesagt geht es darum, dass es mir eigentlich immer möglich ist, meiner eigenen Hand auszuweichen. Wenn ich es also schaffe, mich mit dem Gegner zu verbinden und seine Hand somit auch meine Hand ist, so ist es (zumindest theoretisch) ein Leichtes, von ihm nicht getroffen zu werden. Ich muss mich nur entsprechend anpassen, und der Angriff geht ins Leere.
Da es mir jedoch nicht nur darum geht, nicht getroffen zu werden, sondern auch darum, den Angriff nachhaltig zu beenden, benötige ich noch weitere Energien/Fähigkeiten, um auch selbst zu treffen.
Auch wenn die übliche Trainingsmethodik davon ausgeht, dass bereits Armkontakt besteht, so ist es doch so, dass dieselben Vorgänge natürlich dann auch bei Angriffen eines Gegners zum Tragen kommen (dies wird im WingTsun in „Offline-Anwendungen“ trainiert, im Taiji- Quan im Shan Shou).
Der Gegner greift an, ich gehe mit meinem Keil entgegen (Peng), nehme Kontakt auf (Zhan Nian Jin), erfühle (Ting Jin) und interpretiere (Dong Jin) die Angriffsrichtung, um dann aus verschiedenen Möglichkeiten auswählen zu können.
Die nun folgende Aufzählung einiger weiterführender Energiearten und ihre mögliche Übungsmethodik in Beispielen aus WingTsun Sektionen ist keinesfalls vollständig, soll aber helfen, diese besser zu verstehen und zu kultivieren.

Zou Jin – aufnehmende Energie
Kommentar:
Die Energie des Angreifers wird – wie bei einer Spiralfeder – aufgenommen.
Alternativ dazu besteht auch die Möglichkeit, Zou Jin dahingehend zu nutzen, dass ich mich an den Angreifer heranziehe.
Dies erfolgt jeweils ohne Ablenkung der ursprünglichen Bewegungsrichtung des Angriffs. Beispiele:
1. Sektion ChumKiu ChiSao – Aufnahme des Angriffs mittels Jum/Kao
4. Sektion Chum Kiu ChiSao – Aufnahme des Doppelfauststoßes mittels Quan Sao

Hua Jin – neutralisierende Energie
Kommentar:
Hier wird die zuvor aufgenommene Energie (Zou Jin) dem Angreifer wieder zurückgegeben. Beispiele:
1. Sektion ChumKiu ChiSao – Wiederkommen mittels Innenpak/Fst
4. Sektion Chum Kiu ChiSao – Wiederkommen mittels Doppelfaust
Ein weiteres sehr anschauliches Beispiel für Hua Jin scheint mir auch die Schwingerabwehr mittels Taan-Fauststoß – die Energie wird mittels Taan in den eigenen Körper umgeleitet und über den Fauststoß des anderen Armes direkt an den Angreifer zurückgegeben. Er schlägt sich also selbst.

Jie Jin – entlehnende Energie
Kommentar:
Man nimmt die gegnerische Energie wahr, aber anstatt sie aufzunehmen und zu neutralisieren, unterstützt man sie in der ursprünglichen Bewegungsrichtung. Dadurch fällt der Angreifer quasi in ein Loch und bekommt dann auch noch von hinten Unterstützung dabei.
Beispiel:
3. Sektion BiuTze ChiSao: „Old man showing the way“

Yin Jin – verleitende Energie
Kommentar:
Bei der Verleitenden Energie (Yin Jin) will ich den Gegner in eine für mich günstigere Position bringen.
Beispiel:
Hierfür wäre der Einstieg in die 3. Sektion ChumKiu ChiSao anzuführen. Dadurch, dass ich mit Quan Sao und Wendung die Distanz verändere (auch wenn ich den Partner etwas „ziehe“), verleite ich den Gegner dazu, mir zu folgen und den Kontakt zu halten.

Cuo Jin – ausfüllende Energie
Kommentar:
Entstandene Lücken in der Abwehr des Gegners werden ausgefüllt.
Beispiele:
2. Sektion BiuTze ChiSao: Gum/Chan Sequenz sowie viele weiter BiuTze Sequenzen 3. Sektion ChumKiu ChiSao: nach dem Einstieg Fak Sao (& Chan Sao)
6. Sektion ChumKiu ChiSao: Lap/Fak Sequenz

Na Jin – ergreifende Energie
Kommentar:
Ergreifen (& Fixieren) des Gegners, um ihn in weiterer Folge schlagen & treten zu können Beispiele:
2. Sektion ChumKiu ChiSao: bei der greifenden Hand der „Jum“-Hebel-Abwehr
3. Sektion BiuTze ChiSao: Sequenz mit dem Au-Kuen
4. Sektion ChumKiu ChiSao: Einstieg (Kam Sao)
Einstieg in die 1. Sektion Holzpuppe.

Zuan Jin – bohrende Energie
Kommentar:
Die bohrende Kraft dient zur Verstärkung der Trefferwirkung, so wie Schrauben die Verstärkung eines Nagels darstellen.
Beispiel:
4. Sektion ChumKiu ChiSao: Phönix-Fauststöße

Duan Jin – brechende Energie
Kommentar:
Diese Energie wird dazu genützt, dem Gegner z. B. die Rippen zu brechen. Beispiel:
3.Sektion ChumKiu ChiSao: Fak Sao

Zhang Jin – wachsende Kraft
Kommentar:
Diese Energie geht über Peng Jin hinaus und breitet sich noch weiter aus. Beispiel:
BizTze Fingerstiche

Chen Jin – sinkende Kraft
und Ti Jin – hebende Kraft

Kommentar:
Sinken und Heben des Gegners mit dem Ziel, ihm das Gleichgewicht zu brechen – jedoch nicht aus den Armen heraus, sondern aus dem ganzen Körper. Gleichzeitig mit der Entwurzelung des Gegners erfolgt auch immer eine Verwurzelung von einem selbst.
Beispiel:
7. Sektion ChumKiu ChiSao

An Jin – drückende/fesselnde/schiebende Kraft
Kommentar:
Durch Drücken der Arme auf den Gegner wird dieser gefesselt/immobilisiert, um ihn weiter zu bearbeiten, eventuell wird der Angreifer sogar weggeschoben. Beispiele:
3. Sektion ChumKiu ChiSao: beim Fesseln der gekreuzten Arme des Gegners
5. Sektion ChumKiu ChiSao: beim Fesseln des LanSao
6. Sektion ChumKiu ChiSao: hier allerdings in seitlicher Position.
Schiebende Variante:
1. Sektion ChumKiu ChiSao: nach dem Zug bei Pak/Handflächenstoß
2. Sektion ChumKiu ChiSao: bei der Abwehr mittels Armstreckhebel.

Cai Jin – pflückende/ziehende Energie
Kommentar:
Bei Cai Jin entsteht die entgegengesetzte Richtung zu An Jin, also ein schräg nach vorne und unten Fallen des Angreifers.
Beispiele:
2. Sektion ChumKiu ChiSao: Hebelabwehr (Jum-Variante)
3. Sektion ChumKiu ChiSao: beim Einstieg
Ebenso im Holzpuppen-Zug

Auch wenn es durchaus sinnvoll ist, die verschiedenen Energien vorerst einzeln zu üben und zu kultivieren, so ist doch entscheidend, diese später im Wechsel so ausführen zu können, dass sie sich gegenseitig unterstützen. Es ist auch so, dass natürlich in Bewegungssequenzen mehrere Energien gleichzeitig (z. B. greifen und ziehen in den Hebelsektionen), oder aber unmittelbar nacheinander benötigt werden können.
Grundvoraussetzung dafür, diese Energien auch wirklich sinnvoll üben zu können, ist ein guter Trainingspartner, bei dem man „ins Verlieren investieren kann, um das Gewinnen zu üben“.
Solange ich mit der Angst kämpfe, selbst getroffen zu werden, fehlt die nötige Entspanntheit, und der Trainingserfolg stellt sich nicht wirklich ein.
Man muss darauf vertrauen können, dass beiden Trainingspartnern daran gelegen ist, sich gegenseitig zu verbessern und auf den anderen aufzupassen.
Nur so ist es möglich, weg von reiner Körperkraft, hin zu Bewegungsabsicht (Shen) zu gelangen.
Natürlich gibt es wahrscheinlich genauso viele (wenn nicht mehr) Unterschiede zwischen WingTsun und Taiji.
Der größte Unterschied liegt meiner Meinung nach darin, dass WingTsun die kämpferische Anwendung im Vordergrund hat, und somit auch sein gesamtes Trainingskonzept darauf ausgelegt ist, so schnell als möglich effektive Mittel zur Selbstverteidigung zu haben.
Im Taiji hingegen scheint mir mehr der Weg das Ziel selbst zu sein. Insofern wird hier natürlich auch entsprechend unterrichtet/trainiert.

Folgende Punkte waren für mich persönlich besonders hilfreich, um mich als Kampfkünstler weiter zu entwickeln:
War es für mich früher einfach nur „in den Stand gehen“, so ist es nun ein permanenter Versuch, optimal ausgerichtet zu sein. Allein die Konzentration auf die korrekte Ausrichtung macht vieles einfacher, da ich nicht mehr ständig mit dem Gleichgewicht kämpfen muss und mich nun wirklich auch auf meine Übungen bzw. meinen Trainingspartner konzentrieren kann.
Auch die nun (teilweise) vorhandene Verbindung von den Armen bis zu den Beinen macht vieles erst richtig möglich, ohne übermäßig viel Muskelkraft einsetzen zu müssen. Funktionierende Muskelketten sind diesbezüglich einfach effizienter.
Das eingehende Befassen mit den „Taiji-Energien“ hat bei mir dazu geführt, darüber nachzudenken, warum ich in den Sektionen was wann mache bzw. machen sollte.
War es früher mehr ein „Abspulen“ der verschiedenen Grundbewegungen, so versuche ich nun wirklich das zuzulassen, was mein Trainingspartner von mir will (egal, ob er es nun will oder nicht). Dadurch entsteht viel öfter die Möglichkeit, geöffnete Lücken für mich zu nutzen und „durchzufließen“, als wenn ich nur mache, was der Ablauf vorsieht. Denn – wie ich auch meinen SchülerInnen immer wieder sage: Den richtigen Druck für etwas zu geben, ist weitaus schwieriger, als auf diesen zu reagieren.
Natürlich hat sicher auch das langjährige WingTsun Training einen Großteil dazu beigetragen, dass einiges nun einfach funktioniert (anderes eben noch nicht) – denn ohne das langwierige regelmäßige Training hilft auch das beste theoretische Hintergrundwissen nichts.
Je länger ich Kampfkunst mache, desto besser geht es mir damit – und genau so sollte es sein in einer Kampfkunst, die einen ein Leben lang begleitet.
Diesbezüglich ist es nun natürlich besonders hilfreich für die ganzheitliche Weiterentwicklung, nicht mehr nur auf einen Stil beschränkt zu sein, sondern stilfrei das vorhandene Potential bestmöglich auszuschöpfen versuchen.

Vielen Dank an alle, die mir bisher auf meinem Weg auf die eine oder andere Art hilfreich zur Seite gestanden sind. Ich hoffe auch weiterhin viel von ihnen lernen zu dürfen und meinen Beitrag zu leisten, die Kampfkunst weiter zu verbreiten.
Quellen:
Der letzte wird der Erste sein
Die Geschichte des Yip Man Stiles WingTsun Kuen
Roots & Branches of Wing Tsun
Vom Zweikampf
Siu-Nim-Tao of the WingTsun System Das Wesen des Taiji-Quan
Chen
Sifu Franz Herzog
Das Internet
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Keith Ronald Kernspecht Prof. Leung Ting
Stuart Olson Jan Silberstorff
Günther Röder
Schriftliche Arbeit zum 4. Lehrergrad
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